Schönen guten Abend,
meiner Tante Herta, der älteren Schwester meiner Mutter, gelang Ende März 45 die Flucht aus dem umkämpften und brennenden Danzig. Sie führte Tagebuch und fasste dieses kurz nach Kriegsende in einem Bericht zusammen.
Ich habe meine Tante nie über ihre Erlebnisse und vor allem auch nicht über ihre Aufzeichnungen befragen können. Ich entdeckte diese erst nach ihrem Tode. Der Schreibstil wirkt auf mich manchmual irritierend, manchmal auch verstörend.
Ende März 45 war meine Tante eine junge 19-jährige Frau, lebenslustig, vielleicht auch draufgängerisch. Zumindest teilweise vermittelt ihr Bericht den Eindruck, als sei der Krieg und dessen Schrecken ein großes Abenteuer in dem es gilt, allen Gefahren heroenhaft zu trotzen. Und dann der Berichtsstil: Mitunter vermeint man, den Tonfall eines Kriegsberichtserstatters herauszuhören.
Meine Tante hat schreiben können. Ihr Bericht, viele, viele Seiten lang, fesselt in weiten Passagen. Heute bringe ich nur einen kleinen Teil, denn es kostet doch einige Zeit, all das was sie schrieb, auf den Computer zu bringen. In den nächsten Tagen wird es weitere Folgen geben.
---------
Bericht von Herta Rusch, geb. Schneider, * 03.02.1925 in Schnakenburg bei Schiewenhorst
---------
In dieser zusammengefaßten Mappe will ich alles niederschreiben, was ich seit den letzten Tagen in Danzig und meiner Flucht erlebt habe, mir und meinen Kindern später zur Erinnerung.
I.Teil. Die letzten Tage in Danzig
Danzig war zur Festung erklärt. Die Befestigungsarbeit war überall im Gange. Unsere Vaterstadt sollte als Bollwerk im Osten um jeden Preis gehalten werden. Würden unsere Truppen standhalten, wenn die russische Walze ins Rollen kam? Hatte es überhaupt noch einen Zweck? Doch wir glaubten, glaubten noch immer, denn sonst war uns ja die zwangsweise Flucht sicher. Wir waren in großer Sorge, wie es uns wohl ergehen würde.
Der Beschuß nahm mit jedem Tage zu. Ich mußte nochmal nach Zoppot zu Mutsch, koste es, was es wolle. Ich zögerte auch nicht. Am Sonntag, dem 11.3.45 fuhr ich raus. Es war ausgerechnet den ganzen Tag Alarm. Man hörte schon nichts anderes mehr, als die Sirene. Auf dem Bahnhof angekommen, ging die Sirene wieder los. Der Zug fuhr aber trotzdem. Tiefflieger umkreisten ihn. Ein unangenehmes Gefühl wollte mich beschleichen, doch ich kam gut in Zoppot an, und fand meine Lieben gesund [Anmerkung: Bismarckstr. 5]. Kaum angekommen, war ich auch schon wieder im Keller. Dort haben wir uns trotz heftigen Bombardements ganz nett unterhalten. Das war ein Angriff von 4 Std., immer in einzelnen Wellen. Um 21.00 konnte ich endlich aufbrechen. Im vollkommen dunklen Zug fuhr ich zurück nach Langfuhr und kam auch gut nach Hause. Das war mein letzter Tag bei Mutsch und Reini.
In Langfuhr bei Tante Erna wars nun auch ganz schön [Anmerkung: Erna Wenzke, Hochstrieß 16]. Die ganze Familie Wenzke saß meistens den ganzen Tag im Keller. Dadurch hatte ichs gut. Zu tun war nichts und ich hatte desto mehr freie Zeit. Tieffliegerangriffe, Ari-Beschuß und Bombenangriffe nahmen mit jedem Tag zu. Ich war nie im Bunker, sondern bei Helgalein und ihrer Mutti. Wir waren am Kuchen backen, Bonbon- und Pudding-Kochen so oft es anging, nur, um die letzten Tage auch auszunutzen. Ullis Freunde kamen oft, und beim Zigaretten rauchen und manchen Erzählchen vergingen die Stunden. In allem war eine leise Wehmut, - wer weiß wie lange noch -? Eine unüberwindbare Sehnsucht nach einem gemütlichen Heim - nach Frieden überhaupt – verspürten wir alle. Warum mußte alles so sein? Das Schicksal ist grausam. Doch wir haben immer wieder versucht, diese Gedanken mit unserem unverwüstlichen Humor auszulöschen.
Dann kam der Tag, am 14.3.45, an dem Irene und Siegfried abfuhren. Ich war sehr sehr traurig, denn ich wäre gern mitgefahren. Sie fuhren mit der Deutschland nach Kiel. Onkel Achim war ich ernstlich böse, doch Tante Erna hat mich wieder so verwöhnt, daß ich meinen großen Groll vergaß.
Wir bekamen eine neue Einquartierung. Vorne, auf dem Hof, war eine Gulasch-Kanone aufgefahren. Zuerst hatte ich sie gar nicht beachtet, bis ich da von jemand geärgert wurde. Es war beim Tiefflieger-Angriff. Ich wusch trotzdem draußen Strümpfe. (Das Wetter war einzig schön, so ein schönes Frühjahr war schon lange nicht. Die Sonne brannte schon richtig). Da freundeten der Heinz und ich uns an, d.h. die Freundschaft bestand nur aus gegenseitigem Ärgern. - Gegen Abend gabs nen großen Angriff auf Neufahrwasser und Danzig. Der Himmel war rot. Es war eine rötliche Helle um uns, daß man hätte draußen lesen können. Zudem die bunten Tannenbäumchen in der Luft und die Leuchtspur der Flak - ein schauerlich-schönes Bild. Man wurde vielmehr an eine Johannisnacht erinnert. War das der Krieg? Ja, es war die grausamste Wahrheit und Wirklichkeit.
Herr Wenzke kam mit einem Hauptwmstr. in den Bunker. Ein lb. Mensch. Wir unterhielten uns ganz nett, über alle Dinge des täglichen Lebens. Statt im Bunker zu sitzen, gingen wir noch ein Stündchen ins Büro [Anmerkung: Autospedition Wenzke, Hochstrieß 16]. Ein Stückchen Torte wurde uns von Helgaleins Mutti serviert, dazu hatte er Zigaretten mit, ein wirklich gemütlicher Abend. Man vergaß die grausame Welt draußen.
Der Heinz kam unterdessen jeden Abend ins Büro. Am Tage hatte er nicht so viel Zeit. Er zeigte uns seine Kochkunst, Griespudding, Kuchen und so manchen schönen Gulasch ließ er uns zukommen. Wenn die Bordkanonen auch auf dem Hof ihre Arbeit taten, wir waren immer alle zusammen. Der Heinz fehlte nie. Den Bunker gingen wir höchst selten einmal aus Neugier von innen ansehen. Frau Lengwenings war so lieb zu uns allen. Was gab es immer für Spaß bei uns. Wir haben uns das Leben noch so schön wie möglich gestaltet. Nur der Heinz hat uns geärgert. Nun, mehr spaßig gemeint. Wenn wir schlafen gehen wollten, verschwand er nie, saß mit einer Seelenruhe da, ohne Notiz davon zu nehmen. Warf ich ihn raus, lachte er nur. Einmal geschah folgendes: Helga ging schlafen, als er dabei war. Irma lag schon im Bett. Helga war so wütend, haut sich so richtig auf die Bretter (sie schlafen übereinander, in aufgestockten Soldatenbetten). Helga, Irma, Bretter, Matratzen u. Kissen landen eine Etage tiefer. Man sah nur ein wüstes Durcheinander, aus dem Arme und Beine hervorstaken. Oh weh, was haben der Heinz und wir gelacht.
Bald merkte ich aber, daß der Heinz es auf mich abgesehen hatte. Freitag nacht waren wir alle auf, Helgaleins kleiner Ritterkreuzträger Willy war auch da, und der Helmut. Die haben politisiert, und ich war überrascht, was „mein Heinz“ alles hervorbrachte. Ich hätte das bei ihm nie vermutet. Da verzieh ich ihm seine ganzen Sünden im stillen. Wir saßen bei der Lichtknappheit, d.h. es war ja gar kein Licht im Dunkeln, und erzählten gegenseitig unsere Erlebnisse. Wir rauchten dabei Zigaretten. Es war so urgemütlich, daß wir nicht einmal die fehlende Flasche Likör vermißten. Auf einmal erschütterte eine gewaltige Detonation unsere heimelige Stille. 7 Bomben fielen auf das Kasernengebäude, gerade auf der gegenüberliegenden Straßenseite [Anmerkung: Gegenüber lag die Husarenkaserne]. Nun, Krach dieser Art waren wir gewöhnt. Wir hoben nur den Kopf, spuckten einmal aus, nach Landserart und erzählten weiter. Nein, so ganz geheuer war die Sache nicht. Erst mußten wir sehen, was draußen los war. Da gabs ein Feuer. 25-30 Mann tot. Verbrannte und Verwundete außerdem. Nun war unser Hochstrieß erst recht beleuchtet, einsehen konnte der Iwan schon bei uns. Bei den Löscharbeiten pfefferte der Iwan immer feste rein, und dann noch mit Fliegerbordwaffen. Deshalb und wegen des Funkenregens mußten wir wieder rein. Nun dösten wir auf den Chaiselognen hin, waren vielleicht auch eingeschlafen, - krachts!!
Aus? – Nein, man bewegt sich noch. Die Fensterläden waren indem schon aufgesprungen, Scheiben klirren, alles still. Eine Bombe von der Nachteule hatte sich gerade unter das Fenster verirrt, wo wir ungefähr schliefen, muß in den Bach [Anmerkung: Strießbach] gefallen sein. Wars nun Angst, oder nur so ein mulmiges Gefühl?, das uns heimlich beschlich. Wieder mal gut gegangen. Die Nacht ging herum. Um ½ 5 Uhr fing die Iwan-Ari an, uns ihre Grüße herüberzusenden, immer so, daß die Geschosse über unser Haus pfiffen, weil sie ja schon drüben auf der anderen Seite in die Kasernen-Gebäude gingen. Wir hatten dann ständig das Gefühl, daß es uns treffen würde, aber wenn es pfiff, wars ja schon vorbei.
Heute, am Sonnabend nun, den 23.3.45. Morgens um 6 Uhr kamen dann anschließend die Tiefflieger, und kreisten den ganzen Tag immer in geringer Höhe über uns. Ich ging schnell, immer am Zaun entlang, zum Fleischer zur Hauptstraße. Es war so angereiht, mindestens eine 20 m Schlange zu zwein. Es war gut, daß ich gleich umdrehte und zurück ging, denn so lange Schlange stehen war nachher sowieso aussichtslos, und dann krachte es ja ununterbrochen. Flugblätter regnete es in rauhen Mengen. Schon morgens mußte der Heinz plötzlich weg. Die Küche wurde nach Neufahrwasser verlegt. Wir waren recht traurig, denn wir hatten viele schöne, und auch oft sehr gefahrvolle Std. miteinander verlebt. Der heutige Tag brachte noch Angriffe auf Danzig, Beschuss u.s.w., wie wir es nun schon gewöhnt waren. Jetzt in der Nacht haben wir keine Ruhe. Der Iwan ist vor Brentau. Wird er heute nacht schon da sein? Es heißt ja, unsere Soldaten halten.
Doch die Nacht ging wie immer unruhig, aber ohne besondere Zwischenfälle herum.
Nun will ich den heutigen Sonntag (24.3.45) schildern.
Wir hatten ein herrliches Wetter. Die angreifenden Feindflugzeuge blitzten nur so in der Sonne. Die Sonne lockte direkt zu einem Sonnenbad auf der Bunkerböschung. Aber die Splitter fliegen nur so zur Erde, gleich 20 cm in die Erde, und man wollte es keinem geraten haben, sich in die scheinbar friedliche Sommersonnenstille zu legen. Es krachte in einem fort. Sollten wir heute denn kein Mittag bekommen? Hinauswagen konnte sich niemand, das hätte nicht mal ein Soldat unnötig getan. Selbst auf Mittag wollten wir alle verzichten. Ich hatte aber solchen Hunger, und flitzte über den Hof. Schnell, schnell einen Korb Kartoffeln zusammengerafft, Wasser, Messer und schon war ich wieder im Bunker. Man darf die Geschosse nicht vergessen v. der Ari und den Bordkanonen. Mit dem Schälen zu Ende, wurde wieder über den Hof in die Wohnung geflitzt. Schnell Holz gespalten, auf einmal ein Krachen, ein Rattern, waren die Teufel schon wieder da. Ich lag im nächsten Moment an der Herdwand, schnitt aber ruhig an meinen Spänen weiter. Ein paar Schüsse gingen durchs Fenster, Glassplitter klirrten. Ich machte mir nicht die Arbeit, die Geschosse zu suchen. Mittels einiger Fleischbüchsen war schnell ein Essen zubereitet. Die Kartoffeln kochten, inzwischen das Fleisch und Soße bündig gemacht, süß/sauer abgeschmeckt, mit zitternden Fingern die Kartoffeln abgegossen (weils immerfort krachte, auch auf dem Hof natürlich) und dann gings mit Tellern im Korb und dampfendem Mittag zurück in den Bunker. Ich hätte nie im Leben Mittag so schnell fertig bekommen, wie gerade heute. Im Bunker rief alles ah und Ooooh!! Draußen mochte es nun krachen, wir aßen in aller Seelenruhe Mittag. Ich dachte mir, das wird wohl das letzte Mittag gewesen sein, denn die Stalin-Orgel ist nichts für die Nerven einer Frau, und zudem das Aufschlagen der Bordwaffen, so ein kaltes Klatschen, -furchtbar-. So haben wir notgedrungen den ganzen Tag im Bunker verbringen müssen. Seit der Iwan hinter Brentau war, zu uns hin, konnte er von zwei Seiten einsehen in unsere Straße u. er sparte nun nicht mit Munition. Die Kaserne wurde so bepflastert, daß es für uns schon gefährlich war, überhaupt die Nase herauszustrecken. Der massive Zementbunker schüttelte sich ja schon. Jetzt, gegen Abend, kommt ein Bekannter zu Onkel Achim, will ein Auto, um seine Familie nach Westl. Neufähr aufs Schiff zu bringen. Tante Erna und ich sind nun spitz drauf, mitzufahren. Gesagt, getan.
Später. Tante Erna darf nun wieder nicht weg. Da wollen Helgalein, Ulrich und ich fahren.
Um 21 Uhr gingen wir dann schweren Herzens, und doch voll dankbarer Freude, dem Iwan entronnen zu sein, unter schwerstem Beschuß los, wie kämpfende Soldaten, immer Deckung nehmend. Wir vertrauten aber auf unser Glück, denn wir mußten schnellstens aus der Schußlinie Hochstrieß heraus. Es wurde auch schon mit Gewehr-Munition geschossen. Der Iwan wurde oberhalb Hochstrieß, 800 m von uns gehalten. Jeden Moment konnten Panzer kommen. Eile war geboten. Im Lossowweg sausten einige Einschläge in nächster Nähe ein. Wir duckten uns nicht mal, nur vorwärts, entweder oder! Im Steffensweg warteten wir in einem teilweise durch Ari-Treffer zerstörten Haus, auf Bichowski mit dem Tatra, bis 22 Uhr 30 wurden wir auf die Folter gespannt. Dann gings auf dem großen, offenen Auto nach dem Mirchauerweg über Geröll und Schutt. Immer noch hörten wir hinter uns das M.G.-Feuer des Iwan. In der Adolf-Hitlerstr. empfing uns ein Feuer, oha! Kein Haus war ganz. Die dunkle Nacht-Einschläge, immer wieder Einschläge, das rasende Feuer und dazwischen, wie ein Gespenst unser offener Wagen – uns drohte das Herz nun doch stillzustehen. In der Allee brannte auch alles. Umgekippte Fahrzeuge, Wagen, tote Pferde - furchtbar. In Danzig, am Horst-Hoffmannswall mußten wir noch eine Std. warten. Da sollten 8 elternlose Kinder mit. Eine ganze Stunde!! - Was ging wohl mit uns vor. War es nicht Wahnsinn, da zu stehn? Von Ohra, Schidlitz, Stolzenberg sogar schoß der Russe mit M.G. und schweren Waffen. Ob wir da nochmal lebend vom Fleck kommen? Die Häuser Stadtgraben brannten lichterloh. Es wurden keine Löscharbeiten vorgenommen. Feurige Fetzen und Funkenregen wurden zu uns hinübergetragen. Endlich gings los. Durch die Stadt kamen wir nicht, alles ein Flammenmeer. Wir mußten zurückfahren, und zwar oben Petershagen, Poggenpfuhl, Thornscher Weg, Weidengasse, Langgarten, Kneip ab und raus auf die Chaussee. Die Chaussee war voll Wehrmachtswagen, sodaß an ein Vorwärtskommen nicht zu denken war. Über uns die Nachteule, immer mit M.G. auf die Kolonnen. Bichowski wollte mit uns nicht weiterfahren, denn nun fielen auch Bomben. 3 km vor Westl. Neufähr mußten wir runter vom Auto und zu Fuss weiter nach Westl. Neufähr. Ein paar Mal lagen wir noch lang bis dahin. In Westl. Neufähr gingen wir noch gleich über die Brücke, gleich in das erste Haus. Aufgenommen wurden wir nicht. Ich entdeckte einen Bunker hinter dem Haus. Wir setzten uns hinein. Das Ding war aber ganz voll Wasser. Um 2 Uhr war es uns so kalt, das wir ins Haus gingen, in der Küche auf dem nackten Fußboden hockten und jämmerlich froren. Um 5 Uhr gingen wir schon raus. Das Wetter war ja herrlich. Nun gings den ganzen Tag los mit dem Bombardement, aber wie. Danzig konnten wir gut beobachten. Es war ein Feuer.
Zu essen bekamen wir dort nichts, und machten uns allergrößte Sorgen, wie wir mit unserem Essen ausreichen würden. Zum ersten Male dachten wir so in unserem Sinn, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn wir zu Hause geblieben wären. Doch der Weg war uns ja schon abgeschnitten. Es galt jetzt nur noch vorwärts. Gegen Abend gabs einen Bombenhagel. Wir dachten, dies ist das Ende. Indem die Bomben krachten, liefen wir über das Feld ca. 100 ganze mtr., um in den großen Bunker zu gelangen.