Vom Riesen Tullatsch und dem Pfarrturm.
Von Elsa Faber v. Bockelmann
Habt ihr euch nicht gewundert, dass der Danziger Pfarrturm keine Spitze hat? Was?
Vielleicht hat es der liebe Gott nicht erlaubt, denn dann würde es ja ein Loch
im Himmel geben. Vielleicht haben auch die Menschen kein Geld gehabt, um
weiterzubauen. Der alte Pfarrturm lacht für sich. Er weiß warum.
Da ist nämlich Tullatsch dran schuld. Das war der allerletzte der Riesen. Er
lebte damals noch, als man am Turm baute. Angst hatten die Danziger nicht vor
ihm, denn er hauste in einer eisigen Höhle ganz, ganz oben in Norwegen, und das
ist weit fort. Nur die Seeleute, die von dort herüber kamen, erzählten
Wunderdinge von ihm. Wie er aussah, wusste eigentlich niemand, denn alles machte
sich aus dem Staube, wenn man ihn von ferne sah, doch das er mit einem Schritt
über den Langen Markt weggehen konnte, war eine ausgemachte Sache. Manche
erzählten, sein Gesicht wäre so rund und rot wie die Sonne wenn sie am
tiefsten steht! Seine Augen sind so groß wie Mühlenräder, sein Mund so breit
wie ein Backofen und seine Nase - du liebe Zeit, die wäre wie eine
Kirchenglocke so dick. Aber erst seine Fußspuren, eine ganze Fischerkate
hätte darin Platz.
Also gerade war das Mauerwerk zum Pfarrturm fertig, und morgen wollte man
anfangen, ein hohes, spitzes Dach darauf zu setzen. Hei! War das ein Leben! Es
wimmelte nur so von Zimmerleuten und Handwerkern. Von oben konnten sie bis zum
Meer sehen. Aber - o Schreck - was sahen sie da? Eine Riese, dreimal so groß wie
der Leuchtturm, stapfte durchs Meer über Hela hinweg gerade in die Danziger
Bucht und kam mit Riesenschritten näher. Das konnte niemand anders als der
Tullatsch sein. Hast du nicht gesehen, rannten sie die vielen vielen Treppen
hinunter, und das war keine Kleinigkeit - hatten doch die Treppen 365 Stufen.
Der Turmwächter, der tags zuvor in sein Stübchen gezogen war, tutete aus
Leibeskräften nach allen vier Himmelsrichtungen in sein blitzblankes
Horn:"Achtung! - Tullatsch kommt! - Gleich ist er da! - Gefahr! - Trara! Trara!"
Dann aber sauste auch er herunter, dass die Rockschöße nur so flogen. Er nahm
immer drei Stufen auf einmal oder noch mehr. Nur der Baumeister war oben
geblieben, und das gehörte sich auch so. Unten in der Stadt zogen die
Zugbrücken nur so in die Höhe. die Mutigsten luden die größte Kanone auf
dem Walle, aber dann liefen auch sie fort. Auf den Straßen war es still, wie
nachts um zwölf Uhr. Nur auf dem Fischmarkt stolperten hastig einige Weiber
durcheinander, sie hatten viel wegzuschaffen.
Aber schon dröhnte und donnerte es und Tullatsch stand mit dem einen Fuß auf
dem Langen Markt und mit dem anderen tief in der Mottlau, dass das Wasser
platschte. Die Fischweiber kreischten auf, denn das Wasser war über den Rand
getreten und schwemmte sie alle fort. Gut, dass sie immer so viele Röcke
anhaben, die blähten sich im Wasser auf, und das sah furchtbar komisch
aus. Tullatsch musste so lachen, dass Türme und Häuser nur so wackelten. Jetzt
zog er langsam seinen Fuß aus dem Wasser, sorgsam fischte er sie mit seinen
riesigen Händen aus dem Wasser und setzte sie behutsam auf die Dächer zum
trocknen. Seht da, haben mir die kleinen Menschenkinder einen Stuhl gebaut,
freilich ein bisschen breiter dürfte er sein, aber es geht auch so, und damit
zog er sein dickes Wams aus, und legte es als Kissen unter. Dann setzte er sich
behaglich nieder, der Turm krachte und ächzte. Tullatsch wartete. Warum habt
ihr denn solche Angst vor mir? Ihr wisst gar nicht, wie gerne ich euch Menschen
habe, und ich kann doch auch nicht immer so mutterseelenallein sein", und dabei
kullerte ihm eine dicke, dicke Träne herunter. Ich hab mich ja so gefreut, dass
ihr mir einen so feinen Stuhl hingestellt habt, und nun lässt sich keiner
sehen. Ei, da fällt mir ein, dass ich euch etwas Schönes schenken kann, schaut
mal her!"
Aus seiner linken Hosentasche holte er mit geheimnisvollem Gesicht ein Spielzeug
nach dem anderen heraus, d.h. Riesenspielzeug, alles aus Stein gehauen und
zentnerschwer. Vögel, Krokodile, Soldaten, eine Schildkröte, einen Hirsch,
Löwen, Eidechsen, Sonne, Mond und Sterne kamen zum Vorschein, ein wirklicher
König war auch dabei. Dann griff er ganz tief in seine rechte Hosentasche und
langte eine ganze Handvoll riesiger Steinkugeln hervor. Und das ist für die
Kinder, ich habe als Kind auch damit gespielt. Die Augen des Baumeisters wurden
immer grösser, aber zum Schluss musste er laut lachen, denn die Steinkugeln
waren grösser als die größte Kanonenkugel. Und was wollen wir mit den Sachen
machen? Guter, guter Tullatsch, erlaubt mir, dass ich der Stadt sage, wie gut
ihr es mit uns meint. Das gab ein Aufsehen! Rasselnd fielen die Zugbrücken
nieder. Alle Menschen strömten durch die Gassen.
Inzwischen hatte sich der Bürgermeister die goldene Kette umgehängt und die
Ratsherren zogen die Sonntagskleider an, um Rat zu halten. Da der Baumeister so
mutig gewesen und auch der größte Künstler in der Stadt war, soll er allein
entscheiden was mit den Geschenken des Riesen gemacht werden soll. Ganz außer
Atem kam er oben an. „Tullatsch! Haben die sich gefreut und nun hör mal zu. All
deine Geschenke wollen wir ganz oben auf die Giebelhäuser setzen, da können
wir sie immer sehen und werden dich nie vergessen. Du musst uns helfen, sonst
wird es furchtbar teuer, wir brauchen ja hundert Arbeiter und noch mehr.“ Tullatsch strahlte nur so vor Freude, und nun ging‘s los. Die Löwen kamen vor den Arthurshof. Der Vogel Greif kam hierhin, die Schildkröte auf das Dach in der
Heiligengeist-Gasse, die Soldaten auf den Stockturm. Ja, und der König, der kam
auf die Rathausturmspitze weil er sich mit dem Mantel so fein nach dem Wind
drehte. Er war aus blankem Gold. Tullatsch rann der Schweiß von der Stirn. „Und
was machen wir mit den Steinkugeln?" "Die legen wir vor die schönsten Häuser.“
Nun war alles verteilt, Oh, wie herrlich sah die Stadt aus.
Jetzt kam der Abschied, und der war sehr feierlich. Jedes Mal wenn der
Baumeister seine Mütze schwenkte, wurden unten Kanonenschüsse abgegeben. Der
Wirt vom Lachs ließ ein großes Fass herbei rollen, das leerte Tullatsch gierig
auf einen Zug. Die Tonne aber warf er in die Ostsee, wo sie noch heute herum
schwimmt. Alle Glocken läuteten, und der Bürgermeister hielt eine Rede, von
der Tullatsch freilich nichts verstehen konnte, aber er machte sein huldvollstes
Gesicht dazu.
Ja, und dann - wanderte der Riese fort. Zum Spaß fuhr er mit seinen beiden
Händen noch einige Male durch die Mottlau und warf so viel Fische über die
Stadt, dass sie für acht Tage genug hatte. Es war wie ein Wolkenbruch, und eh'
die Danziger zur Besinnung kamen, war Tullatsch schon über alle Berge.
Niemand hat ihn seither wiedergesehen, so oft man auch nach ihm ausschaute. Zur
dauernden Erinnerung an unseren Freund Tullatsch ließ man den Turm so, wie er
damals war. So ist er bis heute geblieben.
Ihr wisst warum.
Manche von den ganz Gescheiten sagen, es habe niemals Riesen gegeben.
Wir aber wissen's besser.