Aus "Unser Danzig", 05. Februar 1965, Nr.03, Seiten 12-13
Das Landschulheim des Conradinums in Nickelswalde
von Dr. Hermann Strenger
"Die schönsten Erinnerungen an meine Schulzeit führen mich nach Nickelswalde!" So wird wohl jeder sagen, der in den dreißiger Jahren Schüler des Conradinums war und dort die Freizeiten im Landheim miterlebte, dessen Lage ideal war. Zwei große Rasenplätze gaben Gelegenheit zu allerlei Sport, die Dünen mit ihrem Kiefernwald ermöglichten Wanderungen und Kriegsspiele, und jenseits der Dünen lockte der weite weiße Strand zum täglichen Bad. Eine Abendwanderung hinauf zur Albrechtshöhe mit ihrem weiten Blick über die Weichsel hinweg, ein Hinausschwimmen zum Wrack der "BALTARA", was waren das für Höhepunkte im Landheimdasein!
Eigentlich ist es ganz ohne vorgesetzten Plan, fast ganz aus Zufall zu der Gründung des Schullandheimes gekommen. In der ersten Elternversammlung, die Oberstudiendirektor Dr. Millack nach seinem Amtsantritt einberufen hatte, warf einer der anwesenden Väter so ganz nebenbei die Frage auf, ob man nicht ein Landheim einrichten könne? Und diese Frage schlug wie ein Blitz ein, alle anderen Probleme verblassten, man wollte nur noch von dieser Möglichkeit hören, die dann sehr bald greifbare Gestalt gewann. Herr Boskamp, vital wie er war, stellte sofort sein Bauernhaus in Nickelswalde für drei Jahre zur Verfügung, um dort erst einmal die nötigen Erfahrungen zu sammeln, ehe ein neues Heim gebaut würde. Diese Opferbereitschaft wirkte ansteckend. Noch am selben Abend wurde der Plan für einen Schullandheimverein gefasst, und schon wenige Tage später war das Geld für die Inneneinrichtung beisammen. Der Senat der Freien Stadt und die Conradische Stiftung hatten sich beteiligt, viel kam aber auch durch die Spenden begeisterter Eltern zusammen.
Schon im Mai 1930 konnte das Haus bezogen werden. Wenn ich mich nicht irre, war Dr. Siedow mit seiner Klasse der erste, der hinauszog und alles einrichtete. Aus dem Kuhstall waren Schlafräume geworden, ein großer und ein kleiner. Der Tagesraum mit einem großen Kamin befand sich in der Mitte des Hauses. Gewaschen, gegessen und auch unterrichtet wurde draußen (siehe Bilder). Alles in diesen ersten Jahren war denkbar primitiv, aber gerade das machte Spaß; nur was die Sauberkeit betraf, so hatten die Mütter offenbar wenig Zutrauen. Wenn sie nach Nickelswalde herauskamen, war gewöhnlich das erste, dass sie den Herrn Filius in irgendeine verborgene Ecke zogen und seine Ohren auf Sauberkeit untersuchten.
Das einfache, aber gesunde und kräftige Essen schlug eigentlich bei allen an. Bei Ankunft und Rückkehr wurde das Gewicht festgestellt. Dr. Mochow machte das im vereinfachten Verfahren, indem er seine ganze Quarta auf die Viehwaage trieb und das Gesamtgewicht feststellte, der Durchschnitt ergab dann die Zunahme des einzelnen in Pfund oder Gramm.
Sehr bald hatte sich ein fester Tagesplan herausgebildet, von dem man nur bei besonderen Anlässen abwich. Der Tag begann mit einem Waldlauf. Barfuß und in Badehose ging's über die Dünen zum Strand und zurück ins Heim, wo nach der Morgentoilette - das Wasser hierzu musste aus einem Brunnen geschöpft werden - das Frühstück schon wartete. Im Vertilgen von Marmeladenschnitten wurde oft Unheimliches geleistet. Dann folgte der unangenehmste Teil des Tages: das Bettenmachen und Aufräumen der Stuben und Spinde. Manch einer hat dort erst Ordnung halten gelernt. Von 9 bis 10.30 Uhr war bei schönem Wetter im Freien Unterricht. Man suchte sich natürlich den Gegebenheiten anzupassen, und Zeichnen, Vermessungsaufgaben und Naturkunde traten öfter im Stundenplan auf als etwa lateinische Grammatik, die dann nach der Heimkehr wieder zu ihrem Recht kommen musste. Ganz vernachlässigt wurden aber auch diese Fächer nicht. Für die Primaner gab es ganz reizvolle, dem Landheimaufenthalt angepasste Aufgaben: Etwa ein Aufsatz über die soziale Lage der Nickelswalder Fischer oder Wetterbeobachtungen, Pflanzen und Vögel der Dünenwelt und ähnliche Themen.
Wer ein solches Thema übernommen hatte, durfte in der Unterrichtszeit umherstreifen und Beobachtungen sammeln, die er später zu einer Jahresarbeit zusammenstellte. Diese Art der Landheimarbeit hat einige recht brauchbare Ergebnisse gezeigt.
Um 11 Uhr ging's dann an den Strand zum Baden, und wenn in den 13 oder 14 Jahren unserer Landheimzeit kein einziger Unfall vorgekommen ist, dann zeigt das wohl, dass unsere Organisation in Bezug auf Sicherheit sich bewährt hatte. Fischer Hildebrand kreuzte mit seinem Boot vor der Strecke, die zum Baden freigegeben war, und über diese schwamm niemand hinaus. Ein Besuch der im Weichseldurchstich gestrandeten Baitara war eine Ausnahme und wurde nur geübten und sicheren Schwimmern unter Aufsicht erlaubt.
Nach dem Mittagessen kam die wenig beliebte, aber doch notwendige Ruhestunde, anschließend dann bis zum Kaffeetrinken wurden die Schulaufgaben, die sich aus dem Vormittagsunterricht ergeben hatten, gemacht. Wir Lehrer benutzten diese Zeit gern, um bei Hannemann eine Tasse Kaffee zu trinken und eine Zigarre zu rauchen. Frau Hannemanns Kaffee war besonders gut und stach angenehm ab gegen den Muckefuck, den es im Landheim gab, und eine Zigarre war dort natürlich auch nicht erlaubt. Besonders nett waren diese Ruhestunden bei Hannemann, wenn die "Erfurter" da waren. Die "Erfurter", das waren die Lehrer und Schüler vom Gymnasium zur Himmelspforte in Erfurt, die viele Jahre regelmäßig zu uns in das neue Landheim nach Nickelswalde kamen und von dort dann Fahrten nach Ostpreußen machten.
Einmal, 1934, haben wir mit den Erfurtern auch die Landheime getauscht, und ich bin mit 15 Conradinern nach Georgental gefahren. Von dort aus haben wir Weimar und Eisenach, die Wartburg und viele andere Stätten des Thüringer Landes besucht. Auf der Rückfahrt hat uns in Dresden sogar der Oberbürgermeister persönlich von der Plattform des Rathausturmes die schöne Elbestadt gezeigt, für deren Kunstschätze uns sachkundige Führung zur Verfügung gestellt wurde. Wer die Kriegsjahre überlebt hat von diesen 15 Conradinern, wird sich gern an diese Fahrt erinnern. Wieviele mögen es noch sein?
Bis zum Abendessen wurde dann Sport getrieben. Faustball war besonders beliebt. Stimmungsvoll waren immer die Abende, ob wir nun noch einen Gang zur Albrechthöhe machten oder am alten Ziehbrunnen saßen und die schönen Volkslieder zur Laute sangen.
Die Jüngsten waren besonders wild auf Kriegsspiele im nächtlichen Dünenwald. Sie brüsteten sich so prahlerisch mit ihrem Mut, dass ich sie doch einmal auf die Probe stellen wollte. Es wurde also ein nächtliches Kriegsspiel bewilligt, und voll Tatendurst zogen meine Jungen in die Dünen, wo sie ihre Posten aufstellten. Inzwischen hatten aber vier Primaner sich Pferde vom benachbarten Bauern geholt, und Rosse und Reiter wurden mit weißen Bettlaken gespenstisch vermummt. Lautlos ritten die unheimlichen Gestalten in die dunkle Nacht hinein, dorthin, wo die heldenmütigen Posten auf Wache standen. Ach, wie klein wurden die, die eben noch so mit ihrem Mut geprahlt hatten. Sie haben nie wieder ein nächtliches Kriegsspiel verlangt.
Inzwischen waren die drei Probejahre um, und auf dem auch von Herrn Boskamp geschenkten Nachbargrundstück war ein neues Landheim entstanden. Professor Gruber hatte mit seinen Studenten die Pläne entworfen. Wir hatten jetzt ein großes, neues Heim mit zwei Tagesräumen und Schlafstellen für 70 Schüler und vier Lehrer.
Der Kontakt zur Nickelswalder Bevölkerung war sehr herzlich. Oft haben die Schulklassen sportliche Wettkämpfe mit großer Siegerehrung ausgetragen. Während die Sportler Faustball oder Handball gegen eine gleichaltrige Mannschaft der Nickelswalder Volksschule spielten, durften die "Flaschen" gegen die weiblichen Klassenmitglieder Völkerball spielen. Hierbei wurden die erbittertsten Kämpfe ausgetragen, denn die Mädchen hatten eine gute Fang- und Wurftechnik, sodass unsere Jungs manche Schlappe einstecken mussten. Aber alles endete mit einem gemütlichen Beisammensein bei Gesang und humoriger Unterhaltung in der herrlichen, würzigen Luft von Nickelswalde.
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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang