Aus „Unser Danzig“ Nr. 1/2002, Seite 36
Schlittenfahrt übers Haff
Von Kurt Hübert
Mitte Dezember hielt der Winter Einzug. Auf dem Haff bildete sich eine Eisschicht, die bald so dick wurde, dass man Schlittschuh laufen konnte und die Segelschlitten über das Eis flitzten.
Es war Weihnachtszeit 1921. Die Familie Dzaack hatte sich zum Fest in Stutthof an der Weichsel zusammengefunden. Anna, die älteste Tochter, war mit ihrem Mann aus Königsberg angereist, der dort bei der Reichsbahn beschäftigt war. Sein Urlaub über die Festtage war nur kurz. Anna war schwanger und wollte noch gerne ein paar Tage länger bei den Eltern bleiben.
Um Anna den erschwerlichen Weg über Tiegenhof und Elbing bei der Heimreise zu ersparen, beschlossen die Schwestern Olga und Emma, sie mit dem Schlitten von Bodenwinkel übers Haff nach Tolkemit zu bringen. Gleich nach Neujahr sollte die Fahrt losgehen. Schwester Olga wohnte mit ihrem Mann in Bodenwinkel. Er war Fischhändler und hatte Pferd und Schlitten.
Am Tage nach Neujahr wurde alles für die Fahrt über das Haff vorbereitet. In den Kastenschlitten wurde Stroh gelegt, um die Füße warmzuhalten. Der Vater von Gustav legte noch ein Tau und eine Eisaxt in den Schlitten, womit sein Sohn nicht ganz einverstanden war. Der Vater meinte es gut und sagte: „Wer weiß, ob man es nicht doch mal braucht.“
Am Abend kamen die Schwestern nach Bodenwinkel, und am nächsten Morgen sollte die Fahrt losgehen. Es war noch dunkel, da wurde der Braune vor den Schlitten gespannt. In Pelze gehüllt nahmen die Frauen und Gustav im Schlitten Platz. Über den Anwachs ging es zum Haff. Eine leichte Schneedecke lag auf dem Eis, die es nicht mehr so dunkel erscheinen ließ. Im Osten graute schon der Morgen. Die Elbinger Höhe lag als ein dunkler Streifen am Horizont. Langsam verschwand die Nehrung und blieb als schmaler Streifen zurück.
Der Braune hatte noch am Tag vorher neue Stollen bekommen, und so trabte er sicher über das Eis. An seinen Nüstern bildeten sich schon bald vom Atem Eiszapfen. Auch Gustav musste sich öfters mal über den Bart streichen, um das Eis abzuwischen. Nach einer halben Stunde Fahrt wurde eine kleine Pause eingelegt, um sich mal kurz die Füße zu vertreten und dem Pferd eine Verschnaufpause zu geben.
Weiter ging die Fahrt gut eingehüllt in Pelzdecken. Plötzlich tauchte vor ihnen ein weißer Strich von der Nehrung bis zur Elbinger Höhe auf. Was war das? Das Eis war gerissen und hatte sich dachförmig zusammengeschoben. Es galt jetzt, Schlitten und Pferd über dieses Hindernis zu schaffen. Das Pferd wurde vom Schlitten gespannt und langsam an dem Eisspalt entlanggeführt, um es mit beruhigenden Worten auf den Übertritt vorzubereiten. Gustav stieg über das Hindernis, nahm das Pferd an den Zügel und versuchte es rüberzuführen. Ganz vorsichtig stieg der Braune mit der Vorderhand über den Spalt, doch mit der Hinterhand streifte er die Oberkante des Eisberges, der polternd zusammenfiel und mit ihm auch das Pferd ins Wasser sackte. Die Lage sah nicht gut aus. Ein Mann und drei Frauen, eine noch dazu schwanger und kein Schuhzeug, das in diesem Falle nötig gewesen wäre. Es galt jetzt, die Nerven zu behalten.
Zuerst musste der Kopf des Pferdes über Wasser gehalten werden. Jetzt kam die Voraussicht von Gustavs Vater zur Geltung, denn ohne Eisaxt und Leine wären sie hilflos gewesen. Mit der Axt musste erstmal das Eis aufgehauen werden, damit sich das Pferd in der Eisspalte drehen konnte. Gustav gelang es, die rechte Vorderhand des Pferdes auf die Eiskante zubringen. Mit Hilfe der Leine und der Eisaxt als Winde und mit eigener Kraft konnte sich der Braune aus dem Wasser auf das Eis ziehen. Es war geschafft! Glücklich fielen sich alle in die Arme.
Nun musste das Pferd an der Leine im Kreis und leichten Trab bewegt werden. Dann nahm sich jeder eine Handvoll Stroh, um das Fell des Pferdes trockenzureiben. Nach dieser Prozedur sollte die Fahrt weitergehen, doch dann stellte man fest, dass man immer noch auf derselben Seite war wie vorher. Also begann dasselbe noch mal von vorne. Der Braune war trotz allem, was vorgefallen war, ganz ruhig. Gustav führte ihn wieder am Eisspalt entlang, um dann noch einmal den Versuch zu machen, über den Spalt zu kommen. Das Pferd ahnte wohl, was passiert wäre, wenn er wieder patzte. Er stieg mit der Vorderhand drüber und zog auch die Hinterhand ganz vorsichtig über die Eiskante. Nun war es geschafft. Noch musste der Schlitten rübergebracht werden und die Fahrt konnte weitergehen.
Ohne weitere Hindernisse, aber mit etwas Verspätung kamen sie in Tolkemit an. Im Wirtshaus erzählten sie von ihrem Missgeschick auf dem Haff. Die Wirtsleute waren ganz besorgt und mühten sie redlich. Sie sorgten erstmal für trockene Sachen wie Wollsocken und warme Puschen und vor allen Dingen war ein steifer Grog vonnöten. Auch das Pferd wurde im Stall fürsorglich versorgt. Nachdem sich alle etwas begrabbelt hatten, stellten sie fest, dass Emma ein blaues Auge hatte. Das hatten sie bei der Aufregung noch gar nicht bemerkt! Eine kräftige Erbsensuppe brachte alle wieder auf die Beine.
Schwester Anna konnte mit dem nächsten Zug der Haff-Uferbahn weiter nach Königsberg fahren. Nach der Erholungspause sollte die Rückfahrt über das Haff für die anderen wieder losgehen. Jetzt ging es in Richtung Kahlberg-Pröbbernau, um so dem Eisriss aus dem Wege zu gehen: Die Nehrung sollte bei Tageslicht erreicht werden. Dieses Mal verlief alles ohne Zwischenfall, und so erreichten sie am Abend Bodenwinkel.
Müde und erschöpft von der Fahrt berichteten Sie den Eltern, was für ein Missgeschick ihnen auf dem Haff passiert war. Und so kam auch nochmal zur Sprache, dass der Gedanke vom Vater gut war, eine Leine und die Eisaxt mitzunehmen. Ohne diese Geräte wäre die Fahrt, die eigentlich eine Schlittenpartie werden sollte, in einer Katastrophe geendet.
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